Das „Goldene Zeitalter“ des deutschen Judentums hat im Herbst 17431a begonnen mit dem historischen (und symbolischen) Eintritt Moshe Mendelssohn1, ein 14 Jahre alter Jeschiwa Schüler, durch eines der Tore in die Stadt Berlin. Es war das einzige Tor, das den Juden Zugang in die Stadt erlaubte1 (s. 7). Dieses „Goldene Zeitalter“ brachte bahnbrechende Innovationen hervor in Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Literatur und Industrie, die das deutsche Volk bereicherten.
Mit dem Aufstieg des NS-Regimes im Jahr 1933 kam es zu einem Ende. Doch dieses „Deutsche Requiem“ (1743-1933)1 war nur für wenige greifbar, der Rest führte sein Leben unberührt davon weiter. Die Hecht’s waren keine Stadtbewohner (Landjuden) und hatte daher keine Rolle in dieser kulturellen Renaissance.
Zwanzig Jahre später, im Jahre 1762, wurde Itzik Anschel, der Vater der Hecht-Dynastie, in einem kleinen Dorf in Unterfranken im Bundesland Bayern geboren. Bis 1936 lebten vier Generationen in dem gleichen kleinen Dorf und verdienten ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft und Handel.
Das deutsche Judentum hat in all seiner Vielfalt Hass und Diskriminierung unterschiedlichster Arten und Intensitäten erlitten, schon lange vor dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Veranlasst durch große (und kleine) politische Umbrüche, die von Zeit zu Zeit auftraten und die Dämonen des Hasses weckten, litten die Juden unter den Folgen: Pogrome, anhaltende Angriffe und Belästigung, Feindseligkeit und Misstrauen. Das Schicksal der Juden in Unterfranken (wo die Familie Hecht lebte) war ähnlich wie das der Juden in anderen Regionen. Bereits im August 1819 fand eine Mini-„Reichskristallnacht“ in Würzburg statt, der Bezirkshauptstadt von Unterfranken, die Stadt wo Urgroßvater Samuel, Nachkomme in der fünften Generation der Familie Hecht, sein Studium absolvierte und ein Lehrdiplom erhielt (1918-1923).
Von Würzburg verbreiteten sich die Pogrome in ganz Deutschland. Die bayerischen Städte Nordberg und München, sowie Würzburg, sind berüchtigt für ihren Beitrag zur NS-Geschichte. Doch auch Zeiten des Fortschritts und der Aufklärung sind aufgetreten. Es war während einer von diesen Zeiten, dass Kurt Eisner, ein in Berlin geborener Jude, als erster Ministerpräsident der bayerischen Republik ernannt wurde. Eisner wurde im Februar 1919 von Anton Arco-Valley ermordet, ein junger Nationalist, der die Tatsache verbarg, dass seine Mutter auch eine Jüdin war1 (s. 348).
Ich, Yacov Hecht, Nachkomme in der sechsten Generation der Familie Hecht, wurde im Jahre 1935 in Berlin geboren, zwei Jahre nach dem das „Deutschen Requiem“ zu einem Ende gekommen ist (1933). Es war eine Zeit des erneuten Hasses gegenüber Juden, die dazu führte, dass meine Familie entschied nach Israel zu kommen. In Israel herrschte eine Atmosphäre intensiver Ablehnung alles Deutschen. Die deutsche Sprache, meine Muttersprache und die wichtigste gesprochene Sprache meiner beiden Eltern, wurde als anstößig und abscheulich betrachtet. Als Junge fühlte ich mich ausgestoßen für die Verwendung dieser Sprache und als Folge gab ich sie komplett auf. Erst dreißig Jahre später fing ich an sie wieder zu benutzen, doch wurde sie bis dahin fehlerhaft, undeutlich und so ist sie bis heute geblieben.
Die Tage meiner Kindheit waren erfüllt mit Geschichten aus unserer Vergangenheit, Erzählungen unseres Lebens in Deutschland. Mein Vater’s zwingendes Bedürfnis seine Erinnerungen und Erfahrungen zu erzählen hatte eine tiefe und schmerzhafte Wirkung auf mich. Ich glaube, dass sein hartnäckiger Widerwille sich von der Vergangenheit zu lösen, mit seiner konservativen, orthodoxen Weltanschauung im Einklang stand. Dies wurde auch durch seine strikte Einhaltung der Regeln und Vorschriften manifestiert, die er während seines Studiums in der „Israelitischen Lehrerbildungsanstalt“ (ILBA) in Würzburg erworben/absorbiert hat. Diese Hochschule war die einzige in Deutschland, die ihren Lehrplan mit nicht-traditionellen Themen erweiterte; Themen, die bei regulären Jeschiwa Studien nicht Bestandteil waren.
Dieser einzigartige Lehrplan wurde von den Rabbinern Yitzhak Dov Bamberger und Nathan Bamberger, die Schüler von Wolf Hamburger und Yehuda Halberstadt, zusammengestellt. Mein Vater’s Gottesfürchtigkeit begrenzte sich vor allem auf die strikte Einhaltung der Regeln und Vorschriften der jüdischen Rituale. Diese peinliche Genauigkeit verstärkte sich während seiner Zeit als Lehrer in der „Adass Jisroel“ Schule in Berlin (1932-8). Die „Adass Jisroel“ Rabbis bemühten sich eine Linie zwischen rabbinische Ordination (welche nur für die Begabtesten angeboten wurde) und den Lehrern zu ziehen. Der verstorbene Samuel Hecht entschied sich Lehrer zu sein und sein Leben dementsprechend zu führen. Er sah keine Notwendigkeit das hohe Studium fortzusetzen, weder in Deutschland noch in Israel, da seine Bestrebungen (und Ideale) im Leben sich in seinem gewählten Beruf bündelten, dass eines Grundschullehrers, eine Ambition, die er auch in Israel nachging.
In dieser Atmosphäre wuchs ich auf und habe es nie geschafft mich wirklich davon zu lösen. Auch heute gibt es Zeiten in denen ich ein Gefühl der Andersartigkeit habe2 Dieses Gefühl könnte dieses unkontrollierbare Bedürfnis mein Familienerbe zu erkunden hervorgerufen haben. Die Frage, die sich am Anfang meiner „Suche“ stellte, war: War es das Umfeld in der meine Familie aufwuchs (die bayerische Kultur), die uns zu dem gemacht hat was wir sind. Könnte das die Ursache für die Spannung zwischen meinem in Bayern geborenen Vater und meiner in Mainz geborenen Mutter sein?
Wie sich herausstellte war ich nicht der einzige, der Einfluss der deutschen Kultur auf die Erziehung meines Vaters zuschrieb und die Art, wie er sich gab. Die Publikation von Yoram Kaniuk „Der letzte Berliner“ (2002) hat mir andere Berliner vorgestellt, die so zwiespältig wie ich in ihrer Haltung gegenüber der deutschen Kultur sind (Elon’s Buch in englisch ist „The Pity of it all“). Das Buch „German Requiem“ (Elon 2004) lehrte mich die Komplexität der deutsch-jüdischen Kultur. Heute verstehe ich, dass ich nicht einzigartig in meiner Frustration als Nachkomme in der zweiten Generation der deutschen Juden bin, die aus ihrem Land geflohen sind und nach Israel kamen um den Aufstieg des Nationalsozialismus zu entkommen. Es gibt andere, die meine Gedanken und meine Gefühle widerhallen.
In dem Autor Yoram Kaniuk fand ich mich wider. Neben vielen anderen ist er auch gebürtiger Berliner (1935). Kaniuk’s Gefühle, wie er sie in seinem Buch zum Ausdruck bringt, hallten meine wider:
„Vor meinem geistigen Auge sah ich die Fussspuren meines Vaters. Ich sehnte mich danach, sie zu besitzen. Ich beneidete die Deutschen für das Leben innerhalb der Parameter dieser Schritte. Ich beneidete sie, weil mein Vater und seine Freunde sie mehr liebte als mich oder uns oder das Land in dem sie lebten, wo ich geboren wurde… “
Es besteht kein Zweifel, dass unser Leben miteinander verknüpft ist; nicht nur kognitiv, sondern auch seelisch, mit dem unserer Eltern und Großeltern, eine starke Struktur der lokalen, politischen und geistigen Tradition der Familie formend. Alle zu einem bestimmten Ort gehörend.
Wir retten unsere Familiengeschichte aus den Tiefen des Vergessens. Wir erinnern uns vage an das Bewusstsein der Kindheit. Verblassende Fotos in vergilbten Dokumenten sind nicht genug; wir brauchen mehr Hinweise um sicherzustellen, dass sie Teil der Familienchroniken sind. Die Familienstammbaum liefert lediglich die drei wesentlichen Daten in dem Leben einer Person: geboren werden, heiraten und vergehen.
Genau wie Yoram Kaniuk kam auch ich immer und immer wieder zurück nach Deutschland um sich nach der „genetischen Karte“, die mein Vater mir vermacht hat, umzusehen und zu versuchen den deutsch-jüdischen „Gordischen Knoten“ zu lösen3
Doch im Gegensatz zu Kaniuk habe ich noch nicht das Gefühl mich befreit zu haben von den Dämonen, die mich seit meiner Kindheit verfolgen. Die intensive Suche nach meinem Familienerbe und die Herkunft meiner selbst ist auch eine Suche nach meiner eigenen Identität. Diese Suche ist so intensiv, dass ich manchmal vergesse, dass ein Holocaust in Deutschland stattgefunden hat, in dem viele meiner Verwandten umgekommen sind. Es scheint, dass der Freistaat Bayern, wo die Familie Hecht entstanden ist, seinen eigenen Anteil an dem Wachstum des Antisemitismus und den Hass auf das „Andere“ hat und so seit Anfang des 18. Jahrhunderts handelte. Vielen Dank an Cordula Kappner4 für die Informationen, die sie mit mir geteilt hat. Cordula Kappner ist ein Sympathisant der Juden und ein begeisterter Forscher der Geschichte des jüdischen Volkes.
Im Jahr 2004 erhielt sie für ihr „Engagement für die Dokumentation des jüdischen Lebens während des Holocaust“ den Preis der Obermayer Stiftung (Auszeichnung für deutsch-jüdische Geschichte). Es gelang mir eine große Menge an Informationen über die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Niederbayern und Franken zu bekommen. Vor allem auch über die 250 Familien, die in Unterfranken gelebt haben, wo sich der Markt Maroldsweisach befindet und wo die Wurzeln der Familie Hecht ihren Ursprung im Jahr 1762 haben. Wäre Cordula’s Hilfe nicht gewesen wären die Grabsteine auf dem Ermershausener Friedhof, auf dem mehrere Mitglieder der Familie begraben sind, unentdeckt geblieben, außer vielleicht die Kaddisch Stätte, die wir selbst entdeckt haben (auf dem Foto – Matanya, Nachkomme in der sechsten Generation der Familie Hecht spricht ein Kaddisch während der Reise zum Familienerbe im Sommer 2003).
Die Dämonen, die mich seit meiner Kindheit verfolgten, könnten durch die Symbole und Bilder der bayerischen Kultur entstanden sein, die durchdrungen waren mit dem Hass auf den Fremden, auf das „Andere“. Tatsächlich war der Hass zwischen Katholiken und Protestanten in bestimmten Regionen Bayerns noch tiefer als der Hass auf die Juden, ebenso wie die Diskriminierung von Frauen (Heilbrunner 2000:9). Dieser wachsende Hass könnte von bestimmten sozialen Gruppen gestemmt worden sein: Die Bauern und Handwerker, die die Hauptlast der industriellen Revolution trugen, zielten auf den Juden (unter anderem) als Quelle ihrer Frustration. Diese Tendenz auszuschließen und zu entfremden hat (zu einem gewissen Grad) auch unsere Familie infiltriert und richtete sich gegen nicht-deutsche Juden (Ostjuden). Dies wiederum führte zur Unterlassung von mehreren unserer Familienmitglieder. Die zahlreichen und wiederkehrenden Geschichten meines Vaters von seinen Kindheitserinnerungen erwähnten nie unsere große Familie, die in dem Dorf lebte in dem er geboren wurde.
Erst im Jahr 2000, bei einem meiner Besuche im Dorf, hörte ich den Spitznamen „Obere Hecht“. So wurde Max Hecht genannt, Onkel meines Vaters, der auf den Hügeln im Dorf lebte (heute Hausnummer 29 auf der Hauptstraße wo Manasse Hecht wohnte). Max Hecht starb in den Gaskammern von Auschwitz im Jahr 1943. Er ist nicht der einzige, der unserer Familienchronik entfällt. Es könnte weitere Familienmitglieder geben, die den Erinnerungen meines Vaters entgangen sind und daher nicht mit im größeren „Familienbild“ einbezogen sind: ein Brief aus dem Jahre 1988 von Rudolf (Ralf) Hecht, Vater Samuel’s Cousin, dient als Beweis für ein anderes „unerforschtes“ Familienmitglied. Ralf ist 77 Jahre alt (geboren 1911). Er wanderte 1936 in die USA aus und besuchte das Dorf sogar 1971. Als er dort war besuchte er auch das Grab seiner Mutter (Jenny, 1925 verstorben) und pflegte es. Zwischenzeitlich ergab die Google-Suchmaschine eine Verbindung zu seinem Sohn Allan (Aaron), der in Florida lebt (siehe Kapitel: „Die Suche nach einem verlorenen Familienmitglied“). Auch Allan behauptet nie gewusst zu haben, dass unsere Familie existiert.
Er schreibt:
“I have never heard about you, the last time we were in Israel about 15 years ago, we stopped by the Blooms House. I think they lived in Haifa” (29.11.204)
Und dann fügt er hinzu, andertalb Monate später:
“I saw Sally Hecht from Maroldsweisach. Is that your father? I don’t know why none of these names were ever mentioned to me by my father”. (7.1.05)
Allan Hecht erzählte mir, dass zwei Cousinen meines Vaters (Rika Freudenberger und ihre Tochter Sichel, Nachkommen in der dritten Generation der Familie Hecht) den Holocaust überlebt haben und nach New York emigrierten.
Die Atmosphäre der Feindseligkeit und Ausgrenzung, in der ich aufgewachsen bin, hat sich auch gegen andere Familienmitglieder, die nicht direkt mit der Hecht-Familie verwandt sind, gewendet. So war mein Vater abgeneigt gegenüber unserer Tante Lizl (Aliza) Kaufman (geborene Klein), die Schwester unserer Großmutter Ester (Elsa), die im Jahr 2001 verstarb.
Diese angespannte Atmosphäre von Fehden und Ausgrenzungen (in meiner eigenen Familie als auch im sozialen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin) könnte mich angespornt haben, um nach meinem Familienerbe zu schauen und unbekannte Familienmitglieder zu ermitteln und mich somit zu befreien von der Spannung und Feindseligkeit, die mich während meiner Kindheit und meine Jugendzeit verfolgte.
a) Amos Elon „The Pity of it all“ (2002) – (hebräische Ausgabe „Ein Deutsches Requiem“ (2004); b) s. d.: Moshe Mendelssohn (1729-1786), Vater der deutschen Haskala Bewegung (Aufklärung) ↩
Andersartigkeit ist ein ambivalentes Phänomen, das vorteilhafte und unheimliche Elemente umfasst: die Faszination des Neuen und die Bedrohung des Vertrauten, die Möglichkeit der Neuerung und die Gefahr des Verlustes. ↩
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Der Gordische Knoten bezieht sich auf eine drastische Lösung für ein komplexes Problem, dass „bis auf den Kern des Problems schneidet“ (Benannt nach Gordius, siehe im Folgenden:
Gordius, in der griechischen Mythologie, der König von Phrygien. Ein Orakel hatte den Phrygern gesagt, dass der König, der ihren Kümmernissen ein Ende setzen würde, in einem Ochsenkarren naht, und als Gordius, ein Bauer, mit seinem Wagen erschien, wurde er als König gefeiert. In Dankbarkeit widmete Gordius seinen Wagen Zeus und befestigte den Pfahl an dem Joch mit einem Knoten, der alle Bemühungen des Lösens trotzte. Dies war der Gordische Knoten. Ein Orakel besagte, dass der, der ihn löst, Herrscher über ganz Asien würde. Eine spätere Legende besagt, dass, als Alexander der Große nach Phrygien kam, er den Knoten mit einem Schlag seines Schwertes durchtrennt hat. Daher das Sprichwort: „den gordischen Knoten zerschlagen“, meinend ein verwirrendes Problem mit einer einzigen kühnen Handlung zu lösen. ↩
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Eine E-Mail Korrespondenz mit Frau Katherina Grombach vom MARKTGEMEINDE MAROLDSWEISACH hat, meine Bekanntschaft mit Frau Kappner geführt, 8.8.2000:
From: „Grombach Katharina“ >[email protected]>
To: >[email protected]> Sent: 09:18 20.8.200
Subject: Information about your family named Hecht
Sehr geehrter Herr Dr. Hecht!
lhre Anfrage Uber lhre Familie „Hecht“, wohnhaft gewesen in Maroldsweisach, wurde an Frau Cordula Kappner, Bibliotheks – und Informationszentrum, Durerweg 22, 97437 Haßfurt, weitergeleitet. Frau Kappner hat sich intensiv mit Judischen Vergangenheit hier in unserem. Landkreis Hasberge und alle Informationen gesammelt. Sie kann deshalb als „Expertin“ hierfur gelten. Frau Kappner wird sich mit lhnen in Verbindung setzen und lhnen Informationen zukommen lassen.
Mit freundlichen Grußen Marktverwaltung Maroldsweisach
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From: „Bibliotheks- und Infomationszentrum (BIZ) Haßfurt“ <[email protected] t-online.de>
To: <[email protected]< Sent: 12:47 9.8.2000
Subject: Maroldsweisach
Dear Dr. Hecht!
My name is Mrs. Kappner and I will send you the information. Please give me your post address.
Yours sincerely
Mrs. Kappner ↩